Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell soll einmal gesagt haben: „Wenn sich alle Experten einig sind, ist Vorsicht geboten.“ Drehen sich alle Beteiligten inhaltlich um sich selbst, tut es gut, wenn wenigstens einer in der Runde grundsätzlich nachfragt. Es könnte ja sein, dass das gemeinsame Ziel, das im zirkulären Spiel entstanden ist, gar nicht mehr sinnvoll ist. Es könnte ja sein, dass sich Grundlagen geändert haben oder dass das gesamte Unterfangen fragwürdig geworden ist. Nicht zuletzt sind solche Querdenker wichtige kreative Impulsgeber.
Im Bereich „Schulentwicklung“ gibt es so eine Person, die wirklich grundsätzlich nachfragt: Jörg Schlee in seinem neuen Buch „Schulentwicklung gescheitert“.
Der Buchtitel „Schulentwicklung gescheitert“ hat kein Ausrufezeichen, kein Fragezeichen im Titel. Dem Autor, der an der Uni Oldenburg “Sonderpädagogische Psychologie“ lehrte, ist der Befund so deutlich, dass hier nichts betont werden muss. Untertitel: „Die falschen Versprechen der Bildungsreformer“.
Das Buch gliedert sich in sechs Abschnitte:
- Warum »Schulentwicklung« auf den Prüfstand stellen? (5 Seiten)
- Zum Verständnis von Schulentwicklung (11 Seiten)
- Kriterien für eine Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung (21 Seiten)
- Anfragen an die Schulentwicklungsidee (106 Seiten)
- Bilanzierung und Bewertung der Prüfergebnisse (17 Seiten)
- Desiderate und Alternativen (10 Seiten)
An den Umfängen wird bereits deutlich, wo der Schwerpunkt des Buches liegt – und wo nicht. Das Kapitel 4, was vornehm zurückhaltend mit „Anfragen“ betitelt ist, ist der Kern des Buchs. Wer einen kurzen Weg durchs Buch sucht, erhält über die Kapitel 1, 2 und Kapitel 5 die wesentlichen Erkenntnisse des Autors. Aber warum hier die Abkürzung wählen: Trotz unzähliger Quellenangaben liest sich das Buch flüssig, stellenweise sogar spannend.
Ein Frontalangriff gegen jede bekannte Form der SE
Im 1. Kapitel erläutert Jörg Schlee die Notwendigkeit, sich mit dem Thema „Schulentwicklung“ (kurz: SE) auseinander zu setzen. Er nennt drei Gründe: In Schulentwicklung seien erhebliche Finanzmittel, öffentliche Gelder geflossen. Daher sei eine Nachfrage berechtigt, ob diese Gelder sinnvoll eingesetzt würden. Es gibt (nach H. Meyer) noch keine Scheiternsforschung für Schulentwicklungsprozesse. Aber gerade dieser Blick könne zu erhellenden Erkenntnissen führen. Schließlich gelte es eine Grundinstrument der SE auf sich selbst anzuwenden: die (interne und externe) Evaluation.
Das 2. Kapitel liefert einen kurzen, gefärbten Überblick über historische Verläufe und unterschiedliche Ausprägungen der SE. Hierin werden auch bereits die wesentlichen Namen genannt, um bzw. gegen die es im weiteren Verlauf des Buches gehen wird: Dalin, Rolff, Fend, ein wenig Oelkers, Schratz und Schley, am Rande Hilbert Meyer. Und immer wieder Hans-Günter Rolff.
Mit dem 3. Kapitel will Schlee dann 20 Kriterien für eine Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung angeben. Nicht alle Kriterien sind dabei klar zu greifen. So sind aus meiner Sicht z.B. „Sprache und Denken“ oder „Leistung und Tücken von Metaphern“ keine Kriterien, mit denen man eine Theorie ablehnen oder ihr zustimmen könnte. Das zwanzigste und letzte Kriterium heißt „ethische Erwägungen“, beinhaltet aber fast ausschließlich das Tu-quoque-Argument. An dieser Stelle unter dem großen Begriff Ethik nur das Selbstanwendungsprinzip und „Sollen impliziert Können“ zu nennen, ist etwas dünn. Aber vielleicht klang „20 Kriterien“ auch einfachverlockend gut.
Gleichwohl: ich mag das, wenn es gründlich zur Sache geht, wenn ein Autor begründet, warum er so und nicht anders vorgeht. Es wird in diesem Kapitel auch klar, dass der Autor „die“ Schulentwicklung gründlich in alle ihre Bestandteile zerlegen will, um zu verstehen, wie sie im Innersten aufgebaut (worden) ist. Dabei wird er im Folgenden nichts unangefasst lassen:
So wird das 4. Kapitel ein Frontalangriff auf alles Bekannte, was unter dem Begriff „Schulentwicklung“ derzeit kursiert. Geht es um den Begriff Schulentwicklung, Teilbegriffe, Akteure, den Nutzen von SE, mögliche Theorien im Hintergrund,… Ganz egal, womit die oben genannten Autoren vor de kritischen Blick von Jörg Schlee treten: spätestens nach 3 Seiten folgt ein negatives Resümee. Teamarbeit, Bildungslandschaften, „die Schule“, Entwicklung, Qualität, Steuergruppen – es ist aus der Sicht von Schlee hoffnungslos. Jörg Schlee führt die Autoren vor und reibt ihnen ihre Selbstwidersprüche genüsslich unter die Nase.
…für die Stimmigeit und Tauglichkeit der SE-Idee (konnten) keine überzeugenden Argumente gefunden werden. Stattdessen wurde eine Reihe weiterer Probleme, Missstände und wissenschaftlicher Fahrlässigkeiten erkennbar. (S. 102)
Der Schulentwicklungs-Idee fehlen damit alle notwendigen Voraussetzungen für eine praktische Fruchtbarkeit sowie für verantwortungsvolle und erfolgreiche Lehr- und Lernbarkeit. (S. 148)
Dieses 4. Kapitel ist mit über 100 Seiten das umfangreichste. Mittendrin wurde mir es etwas zu viel. Als offensichtlich wurde, dass rein gar nichts den Ansprüchen des Autors genügen würde, ertappte ich mich dabei, rasch vorzublättern. Noch ein Begriff, noch eine These – dann Zerlegung in die Einzelteile. Schließlich Resümee: taugt nichts. Und dann wieder nächster Begriff.
Ad rem, ad personam oder ad hominem?
Die am häufigsten angewendete Strategie ist dabei die Zusammenstellung von Zitaten aus unterschiedlichen Publikationen. D.h. Schlee unterstellt allen Autoren ein insgesamt konsistentes Ganzes, um dann zu zeigen, dass sich die Aussagen oder Begriffe widersprechen. Er listet hierfür 40-50 unterschiedliche Formulierungen mit Quellenangaben auf, wodurch sich natürlich kein Zusammenhang erkennen lässt. Oder es zeigt sich, dass unterschiedliche Autoren Bgriffe unterschiedliche verwenden. Immer wieder muss dann Hans-Günter Rolff als die Urquelle argumentativer Schwächen und quasi als Kronzeuge herhalten.
Leider vermischt sich dabei die über weite Strecken sachliche Auseinandersetzung mit persönlichen Angriffen vor allem gegen Rolff. Da wird sein thematischer Werdegang kritisiert, es werden theoretische Unzulänglichkeiten dem so bezeichneten „spiritus rector“ vorgehalten oder finanzielle Interessen unterstellt.
„Rolffs diesbezüglicher Mangel an Feldkompetenz und fachlicher Expertise…“ (S.162), „Die Mitglieder des IFS befürchteten, dass diese [mehrere Varianten der SE, T.O.] um knappen Ressourcen auf dem Bildungsmarkt konkurrieren würden.“ (S. 23), „Nicht ohne Grund wird Rolff seine Veröffentlichungen zu der für ihn neuen Thematik Organisationsentwicklung in Schulen in Koautorenschaft geschrieben haben.“ (S. 161)
Das fügt der eigentlich guten Idee, eine Grundsatzdiskussion führen zu wollen, einen äußerst schalen Beigeschmack hinzu.
Im 5. Kapitel eine natürlich negativ beschiedene Bilanzierung und Bewertung und im 6. Kapitel nennt Jörg Schlee Desiderate und Alternativen. Leider ist dieses letzte Kapitel gerade einmal knappe 10 Seiten dünn: die Abschnitte Klärung der Gegenstandsannahmen, Folgerungen & Hypothesen, sowie Veränderungen von Positionen und Verantwortungen deuten ein andere Sicht auf Veränderung an Schulen nur an.
Es wäre ein verhängnisvoller Umkehrschluss, aus der Kritik an der der SE-Idee zu folgern, dass in den deutschen Schulen alle zu Besten bestellt wäre und Veränderungen deshalb nicht erforderlich wären.
Stichworte, die Schlee hier nennt: Lehrkräfte als die Experten für das schulische Kerngeschäft, mehr bottom-up und weniger top-down, Erziehungswissenschaftler in dienender, zuarbeitender Funktion, Mitarbeiter von Behörden mit einer skeptischeren Grundhaltung, Reformen nur nach Pilotierung und Nachweis der Wirksamkeit, …
Hier beginnt jetzt die konstruktive Arbeit an Schlees Werk. Man darf gespannt sein, ob und ggf. wie er diese Aufbauarbeit nach dem kompletten Abriss des einen Gedankengebäudes inhaltlich leisten will.
Fazit: Eine an sich gute Idee, die Kritik der Grundlagen der Schulentwicklung, wird durch die persönlichen Angriffe auf Einzelpersonen leider geschwächt. 190 Seiten kosten bei amazon oder beim Buchhändler um die Ecke €29,90.
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