Schule verändern, aber wie? – Nichts Schlimmeres, als wenn Lehrkräfte für sich (und nur für sich) gute Verhältnisse einrichten. Nichts Anstrengenderes, wenn sich alles nur (und ausschließlich) um die Schülerinnen und Schüler dreht. In einem Schulbesuch habe einen schönen Impuls mitgenommen.
Manchmal braucht es ein Umdenken und Mut, um den Raum für Veränderung zu schaffen, der sowohl die Arbeitsbedingungen als auch das Lernumfeld verbessert. Genau das ist an der Kurt-Tucholsky-Schule in Flensburg geschehen, als sich einige Lehrer/innen vor fast sieben Jahren sagten:
„ich möchte so nicht weiterarbeiten. Ich will nicht ständig abends und am Wochenende völlig übermüdet und gestresst sein. Außerdem will ich den Schülerinnen und Schülern wieder besser gerecht werden, so dass sie individueller gefördert werden. Aber wie können wir Schule anders gestalten?“
Diese mutige Frage, die beide Bereiche von Lehrkräften und Schüler/innen vereinte, führte zur Entwicklung des Lernhafen-Konzepts.
Wir gestalten unsere Schule
Seit zwei Jahrhunderten kennen wir Schule so, wie sie eben ist. Warum nicht anders? Naja, weil das Andere noch unentdeckt, unbekannt ist. Unsere Kultur steckt uns fest in unseren Knochen. Tief drinnen ist Schule halt so. Zugleich wächst das Gefühl, dass wir die unbequemen Fragen zur Schule immer energiereicher wegdrücken müssen.
Die Flensburger haben sich auf einen Weg gemacht und mit dem „Lernhafen“ für sich eine Umsetzung gefunden.
Was ist der Lernhafen?
Seit 2017 werden an der Kurt-Tucholsky-Schule zwei bis drei Klassen eines Jahrgangs nach dem „Lernhafen-Konzept“ unterrichtet. Der Lernhafen ist ein innovatives Unterrichtsmodell, das darauf abzielt, das volle Potenzial jedes Schülers, jeder Schülerin zu entfalten. Es bietet den Schüler/innen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln und ihre persönlichen Interessen zu vertiefen. Es ist auch für leistungsschwächere Kinder und Schüler mit Förderstatus geeignet, da es individuelle Lernwege ermöglicht.
Wie funktioniert der Lernhafen?
Das Lernhafen-Konzept basiert auf der Idee, dass die Schüler ihr Lernen in die eigenen Hände nehmen. Die Schüler bestimmen quasi vor der ersten Stunde und zu jeder Woche neu, was sie bearbeiten, wann sie es bearbeiten und welchen Schwierigkeitsgrad sie wählen. Sie planen ihren Vormittag größtenteils selbstständig im Logbuch, was zu hoher Motivation führt. Selbst Klassenarbeiten und Tests werden von jedem Kind innerhalb eines festgelegten Zeitraums eigenständig geschrieben, wenn es sich bereit für die Leistungsbewertung fühlt. („Ok, gib dein Handy ab, hier ist die Klassenarbeit, du schreibst ja an deinem Arbeitsplatz.“)
In 30-minütigen Unterrichtseinheiten (sog. „Vorlesungen“) bringen die Lehrkräfte den Schüler/innen bei, was sie können müssen, um an ihrem Platz (in der „Ankerzeit“) selbstständig und konzentriert zu arbeiten. Zudem begleiten sie die Schüler/innen auf ihrem individuellen Lernweg mithilfe von Tutorengesprächen. In diesen Gesprächen zeigen die Schüler/innen, was sie bereits bearbeitet und gelernt haben und erhalten von den Lehrkräften schriftliches Feedback und Tipps zur Weiterarbeit.
Es bleiben weiterhin ausreichend Zeiten, in denen die Klasse als Gemeinschaft zusammenfindet. Sport, Klassenrat und bestimmte kleine Fachbereiche.
Anekdotisch
Eine Lehrerin, die nicht im Lernhafen-Bereich arbeitete, kam mit den üblichen Mandala-Bildern in eine Vertretungszeit. Die Schüler/innen guckten sie hilflos an und erklärten, dass sie über ihre Planung / ihr Logbuch genug zu tun hätten und keine Beschäftigungsblätter benötigten.
Ein Schüler aus dem 9. Jahrgang, mit dem ich sprach, wechselte nach der 6. Klasse von einer regulären Schule in den Lernhafen. Was sich geändert habe? „Früher bekam ich Arbeitsblätter in der jeweiligen Stunde vorgesetzt. Dann war z.B. in der zweiten Stunde Deutsch, also habe ich dann eben Deutsch gemacht. Nun strukturiere ich mir meine Woche selbst, entscheide, wann ich zu welcher Vorlesung gehe und schaffe meine Sachen trotzdem. Das Deutsch-Thema ist ja genauso da. Nur ich kann das jetzt selbst steuern.“
Ein Paradigmenwechsel in der Lehre
Das Lernhafen-Konzept stellt für mich einen mutigen Paradigmenwechsel dar. Es geht nicht mehr darum, Wissen zu vermitteln, sondern darum, Lernprozesse zu begleiten und zu unterstützen. Dieses Modell fördert die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortung und die Teamfähigkeit der Schüler. Es ermöglicht den Lehrkräften, sich als Lernbegleiter und Mentoren zu sehen, anstatt als bloße Wissensvermittler. Zugleich gibt es in den „Vorlesungen“ noch das klassische Vermitteln, in dem der Lehrer, die Lehrerin vorne steht und die Schüler/innen in Tischreihen sitzen.
Die Lehrkräfte, die den Lernhafen initiiert haben, haben damit ein Umfeld geschaffen, in dem sie ihre Arbeit besser und erfüllender gestalten können. Sie sind nicht mehr ständig übermüdet und gestresst, sondern sie haben die Möglichkeit, individuell auf die Bedürfnisse und Interessen ihrer Schüler einzugehen. Durch die Flexibilität des Lernhafen-Konzepts können sie ihre Arbeitszeit besser verwalten und ihre Arbeit wieder mehr genießen. (Wir Besucher scherzten, ob es quasi Pflicht sei, als Lehrkraft am Vormittag entspannt eine Kaffeetasse zu tragen.)
Die Bedeutung der Gestaltung eigener Arbeitsverhältnisse
Dieser Fall zeigt mir, wie wichtig es ist, dass wir uns die Arbeitsverhältnisse schaffen, die uns sinnvoll erscheinen. Es ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, dass wir den Mut haben, unsere Arbeitsbedingungen zu hinterfragen und Veränderungen anzustoßen, die sowohl für uns als auch für die Menschen, die wir begleiten und betreuen, besser sind.
Also…
Das Lernhafen-Konzept ist ein großartiges Beispiel dafür, wie die aktive Gestaltung der eigenen Arbeitsverhältnisse zu positiven Veränderungen für alle Beteiligten führen kann. Es zeigt, dass es möglich ist, eine Balance zwischen den Bedürfnissen der Lehrkräfte und den Anforderungen der Arbeit für die Schüler/innen zu finden. Es erinnert uns daran, dass wir nicht passiv in unseren Verhältnissen verweilen müssen, sondern dass wir die Möglichkeiten haben, sie zu gestalten und zu verbessern. Mich hat das für die Schule, an der ich arbeiten darf, inspiriert und motiviert.
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