Es ist völlig vermessen, einen neuen pädagogischen Begriff zu kreieren. Daher will ich hier vielmehr von einer Metapher sprechen, die mich seit Jahrzehnten begleitet – und dann etwas allgemeinere Gedanken daraus entwickeln.
Die Metapher des Paternosters: Eine persönliche Erfahrung
Den Gedanken einer „Paternoster-Pädagogik“ will ich mit einem Erlebnis verdeutlichen. Es ist schon Jahrzehnte her. Ich nahm als Student an einer Performance im Rahmen einer Kunst-Abschlussarbeit teil. Die Studentin kannte ich nicht persönlich, aber allein die Größe der Veranstaltung versprach interessant zu werden. Im Kieler Bildungsministerium wurden vielleicht 100 geladene Menschen auf die verschiedenen Stockwerke verteilt. Man saß auf den Stufen, mit dem Blick auf den Paternoster. Mit dem Blick auf dieses sich ständig bewegende System von Kabinen. Als es begann, beobachteten wir, wie Menschen auf und ab fuhren, jede und jeder in seiner eigenen Kabine, jeder mit seiner eigenen Szene und unbekannter (Vor-)Geschichte. Manche allein, manche in kleinen Grüppchen. In dem Moment, in dem sie auf unserem Stockwerk vor uns erschienen, bekamen wir nur einen kurzen Einblick in ihr Sein, bevor sie wieder verschwanden. Die jeweilige Szene, der jeweilige Einblick war kurz.
Nach der Performance glichen wir unsere Eindrücke ab und stellten fest, dass das vermeintlich verliebte Paar auf einem anderen Stockwerk mit Gewalt zu tun hatte, dass der mittelmäßige Rosenverkäufer auf einem anderen Stockwerk ein erfolgreicher Dichter war, dass… unsere kurzen Blicke aufeinander immer nur begrenzt sind.
Schauen wir nun mit dem Paternoster-Blick auf die flüchtigen, aber bedeutungsvollen Begegnungen, die wir täglich in der Schule haben. Es ist ein ständiger Fluss von Momenten und Eindrücken, aus denen wir lernen müssen, sinnvoll und mit Bedacht zu schöpfen.
„Paternoster-Pädagogik“
Begegnungen mit Schüler/innen und Lehrer/innen sind oft flüchtig und momentgebunden. In jedem Augenblick fahren individuelle „Kabinenmomente“ an uns vorbei, und wir erhaschen nur einen kurzen Blick auf die darin befindlichen Persönlichkeiten, Probleme und Potenziale.
In traditionellen pädagogischen oder kommunikativen Ansätzen neigen wir dazu, schnelle Schlüsse zu ziehen und umfassende Theorien über das Verhalten und die Bedürfnisse unserer Schüler/innen oder Kolleg/innen zu entwickeln. Der Gedanke der Paternoster-„Pädagogik“ fordert mich jedoch heraus, diese Annahme nzu hinterfragen. Oft erscheint es mir unangebracht, weitreichende Schlüsse auf der Grundlage solch flüchtiger Eindrücke zu ziehen.
Noch allgemeiner
- Situative Wahrnehmung: Wie der Paternoster, so sind auch menschliche Interaktionen ständig in Bewegung. Jeder Moment ist einzigartig, und das, was wir in einem Moment wahrnehmen, kann im nächsten bereits veraltet sein.
- Offenheit für Veränderung: Genau wie wir nicht vorhersagen können, wer der nächste Passagier im Paternoster sein wird, sollten wir offen und bereit sein, unsere Ansätze anzupassen, wenn wir mit neuen Informationen konfrontiert werden.
- Zurückhaltung im schnellen Urteil: Vorschnelle Urteile können irreführend sein. Paternoster-Pädagogik ermutigt, eine Haltung der Zurückhaltung im Urteil über andere und des bedachten Nachdenkens anzunehmen.
- Respekt vor Individualität: Jeder Mensch, der an uns vorbeifährt, trägt eine eigene Geschichte, eigene Herausforderungen und Träume mit sich. Es ist unsere Aufgabe, diesen individuellen Pfaden mit Respekt und Interesse zu begegnen.
Paternoster-Pädagogik ist für mich keine Methode. Es ist eher eine Haltung, mit der ich auf eine menschlichere Art des Umgangs in Bildungsräumen schauen mag. Immer wieder. Und ich bin weit entfernt davon, dass ich das von mir immer selbst behaupten könnte. Seit vielen Jahren erinnere ich mich immer wieder selbst aktiv an diese Kunstperformance und das, was daraus für mich folgt.
In einer Welt, die sich ständig verändert und in der die Kabinen unseres Lebens unaufhörlich an uns vorbeiziehen, bietet mir die Metapher einen Weg, Begegnungen und einzelne Momente anders zu würdigen und das Potenzial in jedem Individuum zu erkennen. Dieser Blick hilft mir auch in Konflikten. Es ist eine Einladung, langsamer zu machen, genauer hinzuschauen und letztlich eine reichere, vielleicht empathischere Bildungserfahrung zu schaffen.
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