Vor Kurzem gab es einen lesenswerten SpiegelPlus-Artikel: „Dürfen Mächtige Schwäche zeigen?“ (klar, kostenpflichtig). Ausgehend von Angela Merkels körperlichem Schwächeanfall werden zwei Denkschulen vorgestellt, wie Führungskräfte mit Schwäche umgehen. Das kann man natürlich auch auf Schulleitung übertragen.
Mich hat das dazu gebracht, meine Haltung zu überdenken.
„Keine Schwäche zeigen“
Im Artikel wird diese Haltung als die alte Schule bezeichnet und Merkel als typische Figur präsentiert. Die Führungskraft (der Herrscher) zeigt sich zu allen Zeiten stark, ohne Schwäche und Krankheit, viril. Ist die Führung schwach, leidet auch das Amt. Denn wenn sie sich schwach zeigt, fühlen sich die Bürger/Mitarbeiter/… von einer schwachen Person repräsentiert. Wenn die Führungskraft Schwäche zeigt, dann zweifeln sie an der Kompetenz, der Entscheidungskraft, ja dann zweifeln sie am Funktionieren des gesamten Systems und schließlich auch an sich selbst. Die Führungskraft sollte also um jeden Preis Krankheit, Schwäche oder Zeichen von Unsicherheit von sich fern halten.
Angela Merkel zitterte während der (ukraininischen?) Nationalhymne, sie konnte einem Leid tun. Warum unterbricht man nicht das Protokoll? Vielleicht weil Merkel das gar nicht gewollt hätte, so wie sie einige Tage später auch kein Glas Wasser gewollt hatte. Weitermachen, den roten Teppich abschreiten, die nächste Rede halten, hinter dem Vorhang ein Glas Wasser (oder drei) trinken und in die Kamera lächeln, dass es kein Problem gebe. Dann schnell zum nächsten G20-Gipfel, mal eben noch die Welt retten.
Im Sport war es Mertesacker, der auf den ständigen Druck im Leistungssport hinwies. Er reagierte mit Brechreiz oder Schlafstörungen vor den Spielen. Die Anhänger der alten Schule, Lothar Matthäus zum Beispiel, reagierten mit Häme. „Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußball tätig sein? (…) Wie will er einem jungen Spieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist. Das geht nicht.“
In der Schule: Halsschmerzen? Schnell noch Salbeitee aufgießen, denn ich möchte nicht wegen so einer kleinen Erkrankung fehlen. Würden meine Kollegen ja auch nicht machen. Und es gibt da noch eine wichtige Einstellung zu klären. Fieber? Das geht noch. Schnell die Grippostads eingeworfen, bei der Rede vor den Eltern lächeln und in drei Tagen ist ja Wochenende. Ich bin gerade völlig unsicher, wie ich entscheiden soll?! Nichts anmerken lassen! Man erwartet schnelle Entscheidungen, stets Klarheit. Schließlich muss eine Führungskraft immerzu Dinge entscheiden. Der Rücken zwickt? Nicht so anstellen, letzte Woche war ich wegen einer Dienstversammlung schon nicht in der Schule. Da kann ich in dieser Woche nicht schon wieder einen Tag nicht da sein.
„Ehrlich sein“
Der Spiegel-Artikel stellt dann Malu Dreyer, Thomas de Maiziere und Mike Mohring vor, die offen mit Erkrankungen umgegangen seien. Als sie mit ihren Schwächen an die Öffentlichkeit gegangen seien, nahm auch der Druck zu. Im Artikel wird auch die gehässige Seite der Politik angesprochen: Menschen machten sich öffentlich über Merkel lustig.
Auch Leistungssportler müssen eine Menge ertragen, wenn sie ehrlich sind, wenn sie Schwäche zeigen. Fans können da gnadenlos (und z.T. menschenverachtend brutal) sein. Wie schlimm dieser Druck ist, geben einige erst nach der Karriere zu. Die, die daran zerbrechen, sind nur kurz mediales Thema.
Und in der Schule: wie könnte das aussehen, in (sehr vielen) Momenten offen und ehrlich auch als Führungskraft zu agieren? Schwächen auch einmal zu zeigen, ohne grundsätzlich als schwach angesehen zu werden? Wie wäre das, wenn man als Schulleiter seine Unsicherheit benennt? Ich denke, das geht „manchmal“. In sehr schwierigen, großen Entscheidungen. Oder es ließe sich sogar bewusst ansprechen, mit dem Wissen, dass ich dadurch eine offene Situation entsteht, die vom Kollegium gefüllt werden könnte.
Krankheit zugestehen? Ja, auch einmal. Aber nicht jedes Mal und nicht immer.
Denn es gibt natürlich berechtige Ansprüche. Eine Führungskraft, die immerzu krank ist, zaudert, zögert, kann nicht führen.
Wo stehe ich ?
Man macht ja so mit, man entscheidet sich eben.
Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?“ – Und die zwei Jungen schwimmen eine Weile weiter, und schliesslich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“
aus: D.F. Wallace „Das hier ist Wasser“ (S. 9)
Ich glaube, ich tendiere eher zum schnellen „geht schon“ und möchte wenig Schwächen zeigen.
Unterscheide ich zwischen kleinen und großen Themen, dann stelle ich bei mir fest: Bei den kleinen Themen bin ich Anhänger der ersten Denkschule. Bin ich zu müde, trinke drei Glas Wasser einen Kaffee mehr. Ich überspiele eine Krankheit, gehe viel eher zur Schule als vernünftigerweise zu Haus zu bleiben und bemühe mich, meine gute Laune zu behalten oder ganz bewusst hervorzukramen. Entscheidungsunsicherheiten thematisiere ich fast nie, denn es gibt sie ja nicht… Im naiven Glauben, dass durch diese Haltung irgendetwas einfacher wird.
Bei den großen Themen, den (guten oder schlimmen) Lebenserschütterungen, habe ich in den letzten Jahren lernen müssen, dass ich sie thematisieren sollte, dass ich Menschen ins Vertrauen ziehen sollte. Denn bei diesen großen Themen leidet die Leistung. Sie lassen sich nunmal nicht einfach so wegignorieren.
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