Vom Ende der leeren Seite

Früher gab es das noch: Man sitzt vor einem leeren Blatt. Nichts. Kein Satz, keine Idee, nur das Rauschen im Kopf und vielleicht ein bisschen Panik. Kreative Prozesse begannen oft mit dieser Leere und aus ihr musste man sich mühsam herausarbeiten.

Ganz schlimm hab ich diesen Kampf mit der leeren Seite im Mathe-Studium erlebt. Und das dann in meinem ersten Buch („Best-Off“ von 2007, gibt es nur noch hier als Download) in einem kurzen Text „Ideengeburt“ (s.u.) verarbeitet.

Heute? Dieses leere Blatt Papier (wahlweise: diese leere Seite im Texteditor) gibt es nicht mehr. Zumindest nicht für diejenigen, die auch nur ansatzweise mit einer KI arbeiten. Denn mit einer KI gibt es kein leeres Blatt mehr. Ein Thema und der Anfang ist da. Vorschlägen, Ideen, Textanfängen, Skizzen, Gliederungen. Noch bevor man selbst (verzweifelte, kämpfte und dann) gedanklich in Fahrt kommt, ist da ein Anfang.

Das verändert nicht nur kreatives Arbeiten, sondern auch Lernen.

Schule in einer Welt ohne leeres Blatt

Wenn jede Schülerin und jeder Schüler jederzeit eine erste Idee „generieren“ kann, verändert sich die Bedeutung des Anfangs. Die Herausforderung liegt nicht mehr im Starten, sondern im Bewerten, Weiterdenken, Auswählen.
Das heißt für die Schülerinnen und Schüler:

  • Kritikfähigkeit wird zentral. Nicht jede KI-Idee ist gut, passend oder wahr. Schülerinnen und Schüler müssen lernen, Informationen auf Plausibilität, Quellenbasis und sprachliche Qualität zu prüfen. Das ist mehr als Faktenchecken. (und die Halluzinationsraten gehen eh zurück.) Es geht um den Blick für Zwischentöne, für Logiklücken und für unterschwellige Annahmen in Texten. Wisniewski/Haverkamp geben am Ende der zweiten Folge ihres (sehr hörenswerten) Podcasts einige Beispiele und verweisen auch auf das AI Literacy Framework der OECD. Sie zeigen anschaulich, wie sich KI-Kompetenz nicht auf Technikbeherrschung beschränkt, sondern auch kritisches Denken, Quellenbewertung und ethische Urteilsbildung umfasst.
  • Die eigene Haltung zählt mehr denn je. Wer bin ich als Schreibende/r, Denkende/r, Forschende/r? Eine KI hat keine Überzeugungen, keine persönliche Geschichte, keinen inneren Kompass. Schülerinnen und Schüler hingegen schon. Dieser Unterschied macht ihre Arbeit wertvoll und einzigartig. Wenn die KI für eine Debatte zehn Argumente liefert, ist es Aufgabe der Lernenden, auszuwählen, welche sie vertreten können und wollen. Das bedeutet, sich radikal und viel stärker als bisher der eigenen Werte und Überzeugungen bewusst zu werden.
  • Architekten des Denkens werden: KI liefert rohe Bausteine, aber wie daraus ein stimmiges Gesamtwerk entsteht, hängt vom handwerklichen, planerischen Können der Schülerinnen und Schüler ab. Dazu gehört es, zu wissen, wie man aus einer vagen, ersten KI-Idee eine klare Struktur macht, wie man Quellen sinnvoll kombiniert oder wie man das Ganze schlüssig aufbaut. Im Unterricht heißt das, dass Strategien zur Informationsverarbeitung, Gliederungstechniken und persönliche Präsentationsformen noch wichtiger werden. Denn sie machen den Unterschied zwischen einer Sammlung von erhaltenen Sätzen und einem überzeugenden Gesamtwerk.

Unterricht ohne Angst vor dem ersten Satz

Wie grandios fand ich damals das Buch „Kribbeln im Kopf„, das Werbeanzeigen darstellte und Wege zur kreativen Ideen aufzeigte. Die Angst vor dem leeren Blatt, dass das Kribbeln nicht mehr kommen könnte, verliert an Schrecken. Diesen Kampf gibt es in dieser Form nicht mehr. Aus, vorbei. Aber das wird jetzt ersetzt durch eine neue Gefahr: den passiven Konsum.

Früher war es im Unterricht oft eine Leistung, überhaupt irgendetwas zu produzieren. Wer eine Argumentation formulierte oder überhaupt etwas dokumentierte, musste dabei den Ansatz vorab selbst erarbeiten. (Wie langweilig fand ich „Erörterungen“ (nach Schema F)!) Heute liefert eine KI diesen Ansatz in (wenigen GPT-5-thinking-unbestimmt langen) Sekunden: einen Absatz, eine These, einen Lösungsweg. Diese Zeit wird zudem noch weiter schrumpfen.

Damit verschiebt sich die schulische Herausforderung. Entscheidend ist nicht mehr, ob jemand etwas zu Papier bringt, sondern wie er oder sie mit bereits vorhandenen Ideen umgeht. Das heißt: Vorschläge prüfen, Stärken und Schwächen erkennen, Inhalte anpassen oder verwerfen und vor allem eine eigene Haltung entwickeln.

Diese bewusste Auswahl, das Filtern durch die eigenen Werte, Erfahrungen und Ziele ist also der eigentliche Lernprozess. Unterricht sollte also Räume schaffen, in denen nicht das schnelle Endprodukt zählt, sondern die Auseinandersetzung: mehrere KI-Outputs vergleichen, Schwachstellen markieren, neu formulieren und begründen, warum man sich so und nicht anders entschieden hat.

So wird der KI-Entwurf nicht zur bequemen Abkürzung, sondern zum Ausgangspunkt.

Von der Leere zur Flut

Schule muss diese neue Realität nicht fürchten. Aber sie darf sie auch nicht ignorieren. Die Frage ist nicht mehr: „Was mache ich, wenn mir nichts einfällt?“ Sondern: „Was mache ich, wenn mir zu viel einfällt?“

Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen zu befähigen, nicht nur Ideen zu haben, sondern sie zu verstehen, zu prüfen und auch zu verwerfen. In einer Welt ohne leeres Blatt ist das vielleicht die neue Kreativität.

Ideengeburt

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