Evidenz vs. evidence

Im Schulbereich reden wir von „evidenzbasierter Schulentwicklung“ oder „evidenzbasierter Unterrichtsentwicklung“. Jahrelang hab ich den Begriff der Evidenz unhinterfragt mitgenommen und Widersprüche im Alltag, die sich durch diese Unklarheit ergaben, übergangen – ehe ich durch einen Artikel von S. Jornitz (2008) auf eine Differenz gestoßen bin, die mein Verständnis erweitert hat.

Im Artikel „Was bedeutet eigentlich ‚evidenzbasierte Bildungsforschung‘?“ erläutert die Wissenschaftlerin Sieglinde Jornitz unterschiedliche Vorstellungen von Evidenz.

Evidenz und evidence

Gleich zu Beginn stellt sie die Evidenz im deutschen Sprachraum und die ihr nahe stehende evidence im Englischen gegenüber. So steht „to give evidence“ im englisch-amerikanischen für „bezeugen“, „Anhaltspunkte liefern“ oder „Indizien sein“, d.h. hier ergeben sich Puzzleteile, Hinweise, die auf eine großes Ganzes oder eine zu prüfende Hypothese hindeuten.
Im Deutschen unterstellt die Evidenz jedoch, dass ein Nachweis erbracht werden kann, der eine Entscheidung vorherbestimmt, ohne dass weiter gesprochen werden muss: Wenn uns etwas evident ist, dann ist es offensichtlich, bedarf keiner weiteren Begründung.

Etwas ist evident, wenn es nicht erklärt oder begründet werden muss, sondern sich von selbst versteht. Hier steht nicht die Person, die spricht, für die Authentizität ein, sondern die Aussage selbst besitzt die Eigenschaft des Augenscheinlichen. (…) Somit bricht etwas, das als evident gilt, einen argumentativ gestützten Diskurs ab. (Jornitz (2008), S.206f.)

Im Englischen wird zwischen self-evidence und evidence unterschieden und hier ist die self-evidence mit der Evidenz im Deutschen vergleichbar:

„eine Offenbarung ohne weitere Legitimation. (…) Diese im Deutschen und Englischen über Kreuz gehenden Begriffsverständnisse erschweren die Klärung dessen, was mit einer evidenzbasierten Pädagogik gemeint sein könnte. (S. 207)

Erwartungshaltungen an Evidenzen im Alltag

Im Deutschen haben wir neben dieser interkulturellen Begriffsunschärfe eine zweite, die sich zwischen der Bildungsforschung und der schulischen Praxis vor Ort abspielt:
Die evidenzbasierte Bildungsforschung, wie sie z.B. von Hattie vorangetrieben wird, liefert Belege, die aufgrund von wissenschaftlichen Untersuchungen generiert werden. Gegenüber schulischer Praxis bilden diese Evidenzen, an einigen Stellen einen eindeutigen Diskursabbruch im obigen Sinne. Beispielhaft sie hier nur der Diskursabbruch (vgl. hier) zur oft zitierten wissenschaftlichen Erkenntnis genannt, dass „kleinere Klassen nichts bringen“, was auf Lehrerseite natürlich Empörung hervorrief. Dann kann man nicht mehr drüber streiten, denn „die Wissenschaft hat festgestellt…“ (Inzwischen wird zu diesem Thema auf allen Seiten noch differenzierter argumentiert, z.B. hier oder hier).
Evidenz hingegen in der „evidenzbasierten Schul- bzw. Unterrichtsentwicklung“ ist möglicherweise nicht deutlich genug erläutert und schürt daher aus meiner Sicht zu hohe Erwartungen. Evidenz wird hier aus Sicht der Akteure i.d.R. mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (i.S. v.  empirisch gewonnenem, transparentem, objektiviertem Wissen) gleichgesetzt . Dabei erhalten Schulen jedoch Daten aus Lernstandserhebungen (z.B. VERA), externen/internen Evaluationen, Zentralen Abschlüssen, Schulinspektionen und anderen Bereichen des schulischen Alltags (z.B. Anmeldezahlen), die allesamt keine streng wissenschaftlichen Studien und somit auslegungsbedürftig sind.
Verstehen wir diese Daten zu kurz gefasst als unmittelbare Evidenzen sind wir verführt, zu hohe Erwartungen an sie zu stellen. Wir erwarten bereits mit den Daten unmittelbare Antworten oder Belege.

Mit Daten arbeiten – oder: wessen Evidenz?

Isabel van Ackeren (2011) zitiert im Überblicksartikel „Evidenzbasierte Schulentwicklung“ Johnsen, der unterschiedliche Nutzungsformen von Daten erläutert: Die instrumentelle Nutzungsform sieht Evaluationsergebnisse in direkter Konsequenz als Ausgangspunkt von Handlungen. Hier wird angenommen, dass Entscheidungen über (z.B. innerschulische oder unterrichtliche) Veränderungsprozesse direkt und unmittelbar auf der Basis der Ergebnisse (mit jetzt vertieftem Wissen) getroffen werden können. In der konzeptuellen Nutzungsform werden die Ergebnisse durch die Entscheidungsträger aufgenommen mit größerem zeitlichen Abstand in die eigenen Denkprozesse integriert. In der prozesshaften Nutzung sind die Ergebnisse ein Baustein neben anderen Informationen, die Einstellungen und Verhaltensweisen langfristig und akkumulativ formen. (In  der symbolischen Nutzung schließlich werden die Daten zu politischen oder strategischen Zwecken genutzt.)

Martin Heinrich  (2010) schließt hier an:

Deutlich wird in dieser Zusammenschau von kultusministerieller Weisung, wissenschaftlicher Kritik und pädagogischer Professionalität, dass die Schnittstellenproblematik einer ‚evidence-based policy‘ im Rahmen der Lernstandserhebungen höchst virulent ist. (…) Was ist ‚Evidenz‘ oder ‚evidence‘ für wen? Wann wird ‚evidence‘ als Evidenz anerkannt? Was sind Plausibilitäten? (…) Wessen Evidenz ist es?  (S. 59)

Alle Akteure (Heinrich spricht vom Bildungsbereich, ich denke hier an innerschulische Akteure) müssen also ihre unterschiedlichen Vorstellungen viel stärker untereinander abstimmen, ihre Interpretationen von der einen Erhebung mit anderen Eindrücken und den von anderen Akteuren abgleichen. Es geht also darum, die unterschiedlichen Evidenzen zu hinterfragen, sie zu koordinieren, anstatt sie unverstanden nebeneinander stehen zu lassen oder von einem Datum zu viel zu erwarten. Das ist, das wäre dann wiederum eine Frage der (innerschulischen) Organisations- bzw. Gesprächskultur.

Quellen

Heinrich, M. (2010): „Bildungsgerechtigkeit durch Evidence-Based Policy? Governanceanalysen zu einem bildungspolitischen Programm“, in: Böttcher/Dicke/Hogrebe: Evaluation, Bildung und Gesellschaft. Münster: 2010, S. 47-68.
Jornitz, S. (2008): „Was bedeutet eigentlich ‚evidenzbasierte Bildungsforschung?“. in: Die Deutsche Schule 100, H. 2, S. 206-216.

Ackeren, I. van (2011): „Evidenzbasierte Schulentwicklung“, in: Die Deutsche Schule 103, H 2 (2011), S.170-185


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